Flug über die akustische Landkarte,
Stuttgarter Zeitung vom 13. April 2004


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Vom Leben ohne Gehör

Von Anja Tröster.

SINDELFINGEN. Sarah Neef spielt drei Instrumente, spricht fünf Sprachen und tanzt in einem professionellen Ensemble. Eine unglaubliche Leistung, denn Sarah ist von geburt an taub. Trotzdem kann sie sprechen und kämpft nun gegen die Diskriminierung der Gehörlosen.

Nur wen sie sieht, den hört sie. Sarah Neef ist ein Augenmensch. Ein Augenmensch, dessen herz für die Musik und den Tanz schlägt. Für die Musik, die sie nicht hört, wie die meisten Menschen sie hören. Den meisten Menschen, denen sie begegnet, ist sie deshalb ein Rätsel.

Sie wissen nicht, wie es ist, gehörlos oder taub zu sein, und dass es keinesfalls heißt, nichts zu hören. Sarah lebt nicht in einer ozeanischen Stille, einem akustischen Wartezimmer. „Hören“, sagt Sarah gern, „ist lediglich eine spezielle Form des Fühlens.“ Ein Ton ist eine Luftbewegung, eine sinnlich wahrnehmbare Vibration, ein physikalisches Ereignis. Sarah fängt diese Musik mit ihrem Körper ein, spürt den Rhythmus im Blut, in den Härchen auf ihrer Haut. Es ist nicht ganz so wie in Herbert Grönemeyers Hit, in dem es heißt, dass eine Taube die Musik nur über das Wummern der Bässe, das Beben des Bodens wahrnimmt. Aber fast.

Harmonie wird zur Bewegung

Musik, würde Sarah vielleicht noch sagen, wenn sie nicht so höflich wäre, ist ein Gefühl, das die Hörenden nur an der Oberfläche des Körpers wahrnehmen. Dann müssten die Hörenden womöglich neidisch werden auf diesen unglaublich komplexen Genuss, den sie offensichtlich spüren kann.

Wenn sie Musik hört, setzt sie sich neben die Lautsprecher, so lange, bis sie in ihrem Inneren von selbst erklingt. Ihr Körper ist ganz aufs Horchen ausgerichtet, von Kopf bis Fuß. Dann spult sie die Musik beim Tanzen ab, als flöge sie über eine akustische Landkarte. Die Harmonie wird zur Bewegung. Die alten Griechen nannten diese Denkleistung Mnemotechnik.

Schon als Kind tanzte sie viel. Und das tut sie heute noch – zuletzt für ein Projekt der Hermann-Haake-Kunststiftung. Sie hätte das Tanzen sogar zum Beruf machen können. Doch das wollte sie nicht. Die Musik ist nicht mehr alles. Ein Jahr lang hat sie sich ihr ganz gewidmet, sich nach dem Abitur aufs Tanzen konzentriert. Jetzt ist die Musik nur noch eine von vielen Herausforderungen für das Multitalent. Inzwischen studiert Sarah neef in Tübingen Psychologie. Dieses Jahr wird sie ihr Vordiplom ablegen. Gleichzeitig will sie ihre Autobiographie schreiben. Seit ein Filmportrait des Altdorfer Dokumentarfilmers Claus Hanischdörfer auf Arte und im SWR gezeigt wurde, reißen sich deutsche und französische Verlage um sie. Sie steht mitten im Leben, am Anfang vieler Träume, und sie strotzt vor Energie und Begierde, diese endlich Wirklichkeit werden zu lassen,.

Es war ein beschwerlicher Weg für Sarah Neef und ihre Eltern. Sie hört erst von der Lautstärke eines mittleren Düsenjets an etwas, vermutlich auf Grund eines medizinischen Kunstfehlers. Vermutlich hätte ein Hörgerät die Einschränkungen mildern können, hätte der Kinderarzt die Sorgen von Sarah Neefs Mutter in den ersten Monaten nach der Geburt ernst genommen – damals, als die Eltern erstmals beobachteten, dass ihr Kind nicht einmal knallende Luftballons wahrzunehmen schien. Warum sie gehörlos ist, darüber spricht sie kaum. Es sei belanglos, sagt sie. Viel wichtiger ist für sie, die Leistung ihrer Eltern zu würdigen, den Kraftakt, den es für die beiden bedeutet hat, einem Kind die Welkt zu erklären, ohne das wichtigste Werkzeug, die Sprache, benützen zu können.

Die Medizin hat ihr dabei wenig geholfen. Hätte der Kinderarzt die Beobachtungen ihrer Mutter ernst genommen, könnte sie heute mit Hilfe eines Hörgerätes hören. Doch er hielt ihre Mutter für übertrieben besorgt. Dass Sarah dennoch nicht im Ghetto der Gebärdensprache landete, hat sie einer Schweizer Audiopädagogin zu verdanken. Wie etliche Familien reiste sie mit ihren Eltern jedes Jahr zu der Expertin. Die meisten Patienten von einst kennt sie heute noch, fast alle von ihnen sind Mitglied in dem Verein der lautsprachlich kommunizierenden Gehörlosem. Den Sarah Neef mitbegründet hat. Die Gruppe junger Menschen will sich selbstbewusst von einer Behinderung befreien – und von de damit verbundenen Klischees.

Eine Welt der verwischten Laute

Schon aus Prinzip benutzt Sarah keine Gebärdensprache. Zu holschnittartig, urteilt si – einem Morsealphabet weitaus ähnlicher als einer richtigen Sprache. Stattdessen liest Sarah von den Lippen ab und antwortet ganz normal. Es ist, als würde man sich mit ihr in Gedanken unterhalten, als flögen die Gedanken von Kopf zu Kopf, währenddessen sie auf den Mund ihres Gesprächspartners schaut. Sie kann sogar Dialekte an der bloßen Lippenbewegung unterscheiden. „Verstehen Sie Schwäbisch?“ – „A bissle“, antwortet sie schlagfertig. Sarah Neef kann wesentlich schwierigere Aufgaben lösen: Sie beherrscht vier Fremdsprachen.

Ihre Angewohnheit, sich sorgfältig zu schminken, sich aufrecht zu halten, wie es nur Tänzerinnen können, scheint ein Ausgleich für den Mangel an Tönen – so als wolle sie klare Konturen gewinnen in ihrer Welt der verwischten Laute. Sarah Neef redet, als wäre sie nicht gehörlos. Keine Spur von Stummheit. Sarahs Stimme scheint höchstens etwas hohler als gewöhnlich. Viele, denen sie begegnet, halten den Klang ihrer Worte für die Reste eines osteuropäischen Akzents. Es könnte ein Kompliment sein. Doch für die Perfektionistin Sarah Neef ist es ein Ansporn, noch besser zu werden.

Der Gipfel der Vollkommenheit wäre für sie, in einem deutschen Film eine Hörende spielen zu können, ohne dass diese Rolle als Meisterleistung einer Taubstummen verkauft werden würde. Ihr größter Erfolg wäre, wenn die Leute keinen Unterschied bemerken würden. Ja, davon träumt sie. Auf diese Weise würde sie gerne jenen selbsternannten Fürsprechern den Wind aus den Segeln nehmen, die in letzter Zeit für die angeblichen Belange der Gehörlosen eintraten. Die Schauspielerin Marion Kracht ist eine von ihnen. In Talkshows bezeichnete sie die Lautsprache für Gehörlose als Misshandlung und forderte die Rückkehr zur Gebärdensprache. Undenkbar für Sarah, die sich manchmal fragt, ob die Gebärdensprache für die „hörenden Experten“ einen exotischen Reiz besitzt.
Tatsächlich sind die Gehörlosen mittlerweile in zwei Gruppen aufgeteilt, deren Schnittmenge recht gleich ist. Die einen setzen auf Gebärdensprache, auf eine eigenen Gehörlosenkultur, eigenes Theater und den engen Kontakt zu Gleichgesinnten. Die anderen kämpfen um Integration und pochen auf ihre Fähigkeit zur Lautsprache. Sarah Neef will zu keiner der beiden Gruppen gehören, sondern zwischen ihnen vermitteln. „Ich bin so integriert, dass ich selten an meine Grenzen stoße.“

Manchmal wird ihr vorgeworfen, dass sie ihre Grenzen nicht akzeptiert. Darüber kann sie nur lachen: „Hörende sollten ihre Grenzen besser auch ausloten. Jeder sollte das tun.“ Mit 22 Jahren will sie nun ihre Biografie schreiben. „Ich will Mut machen, die Hoffnung wecken, dass sich jeder seine Träume erfüllen kann“, sagt sie. Wie häufig sagt sie dann Sätze, die bewegen – auch wenn sie niedergeschrieben ein wenig kitschig wirken. Es sei schön, sagt sie, dass sie die Kraft habe, den Menschen zeigen zu können, dass jeder Stern am Himmel seinen Platz hat. „Wenn ich etwas will, dann mache ich es auch“, sagt sie dann noch. Aus Träumen kann Wirklichkeit werden. Aber dazu gehört sehr viel Fleiß. So einfach ist das. Und so schwer.

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