Katholisches Sonntagsblatt, Dezember 2009 Zurück Die Gabe, mit dem Herzen zu hören Sarah Neef ist Psychologin, Tänzerin und Klavierspielerin und von Geburt an taub! Von Diana Müller. Sarah Neef ist eine Kämpferin. Vielleicht hat sie das von ihren Eltern, die ihre hörgeschädigte Tochter als Kind zu einer Schweizer Audiopädagogin brachten, damit sie sprechen lernt. Doch auch das Leben hat sie kämpfen gelehrt hätte sie es nicht getan, so wäre ihr vieles verwehrt geblieben. Die 28-Jährige liebt die Musik, Ballett und Klavierspielen. Sie hört die Töne auf ihre Art, nimmt sie nicht über ihre Ohren, sondern über ihre Haut auf, spürt den tiefen Bass im Bauch und den hellen Sopran an der Gänsehaut auf ihren Armen. Sarah Neef hat gelernt, mit dem Herzen zu hören und ist Gott dankbar dafür. Bücher, so weit das Auge reicht. Eng aneinander gedrängt stehen sie in dem Regal, das eine Wand von Sarah Neefs Wohnzimmer einnimmt. »Ich finde es interessant, in das Leben von anderen Menschen einzutauchen und habe mein erstes Taschengeld schon in Bücher umgesetzt«, sagt sie und lacht. Die Drei-Zimmer-Wohnung, die sie sich im Haus ihrer Eltern in Sindelfingen eingerichtet hat, ist hell und gemütlich, aber nicht typisch für eine 28-jährige Studentin. Statt Poster über einem Ikea-Regal hängt bei ihr ein Ölgemälde über dem Klavier Sarah Neef hat ihren persönlichen Stil. Anmutig bewegt sich die junge Frau in ihren Räumen, sorgfältig geschminkt, das dunkle Haar zurückgebunden, das schwarz-weiße Kleid, die flachen Schuhe man kann sich gut vorstellen, wie sie als Balletttänzerin auf der Bühne wirkt. »Balletttraining mache ich nur noch für mich selbst«, bemerkt sie, »momentan ist mein Problem, dass der Tag nur 24 Stunden hat und ich zwischendurch auch mal schlafen muss«. Zwölf Semester Psychologie in Tübingen hat Sarah Neef hinter sich gebracht und steckt nun in den letzten Zügen ihrer Doktorarbeit über das verbale Gedächtnis. Zwischendurch arbeitet sie 10 Stunden die Woche bei Daimler in der Organisationsentwicklung, ein Bereich, in dem sie später gerne tätig sein würde. Sie hat aber auch noch eine andere Idee: »Ich würde gerne eine Praxis für Hörgeschädigte eröffnen, das stelle ich mir sehr erfüllend vor!« Sollte sich diese Idee verwirklichen lassen, dann wird sich die junge Frau auch noch in der Gebärdensprache ausbilden lassen, mit der sich die meisten Hörgeschädigten verständigen. Sarah Neefs Eltern haben bei ihr bewusst einen anderen Weg eingeschlagen und sie bei einer Audiopädagogin ausbilden lassen, die ihr das Sprechen beibringt. Ihnen war es wichtig, dass ihr einziges Kind ein normales Leben führen kann. Heute spricht die Sindelfingerin nicht nur flüssig und auf hohem Sprachniveau Deutsch, sondern auch Englisch und Französisch, Russisch und Latein. »Als ich in die Schule gekommen bin, gab es für mich nur zwei Möglichkeiten Sonder- oder Waldorfschule«, erzählt die 28-Jährige. Ihre Eltern entschieden sich für letzteres und Sarah Neef, die ihr Abitur mit Auszeichnung bestand, ist heute froh, dass sie die Schulzeit hinter sich hat. »Es gab oft Probleme und Regeln, an die ich mich halten musste, obwohl sie für mich einfach keinen Sinn hatten«, meint sie. Viele der hörenden Schüler hätten gar nicht nachvollziehen können, was sie bewegt: »Es war schwer, dagegen anzukämpfen!« Im Studium hatte die junge Frau keine Probleme »in Tübingen haben sich die Dozenten Zeit für mich genommen.« Sarah Neef ist eine junge Frau, die mitten im Leben steht. Wie ist es für sie, abends auszugehen und andere junge Leute kennen zu lernen? Sie schmunzelt: »Die Reaktionen auf mich sind unterschiedlich, aber manchmal kann die Gehörlosigkeit auch von Vorteil sein«, bemerkt sie, »wer damit nicht zurechtkommt, den kann man von vorneherein ausschließen! Ich habe auch schon die Erfahrung gemacht, dass mich manche für eine arrogante Ziege halten, weil ich nicht reagiere, wenn ich von hinten angesprochen werde. Aber das klärt sich meistens ziemlich schnell«, fügt sie hinzu und lächelt. Es gibt nicht viele Dinge, die sie im Alltag vermisst, »aber es gibt Erleichterungen«. So wie das Handy. »Es hat mich schon genervt, wenn Mama alle Verabredungen ausmachen musste«, gesteht sie, per Kurznachricht kann sie das heute selber in die Hand nehmen. Oder die DVD. »Es gab früher so viele Filme, die ich sehen wollte, aber die wenigsten waren mit Untertiteln zu kriegen«, bedauert sie. »Anfangs habe ich wie verrückt DVDs gekauft«. Wenn sie hören könnte, worauf würde sie sich am meisten freuen? »Ich würde gerne mal meine Stimme hören«, sagt sie. Und doch würde Sarah Neef nie mit ihrer Gehörlosigkeit hadern. »Der liebe Gott hat mir so viel gegeben und mein Leben gelenkt«, ist sie überzeugt, »dafür bin ich ihm dankbar! Ich weiß heute vieles mehr zu schätzen und habe gelernt, meine verbleibenden Sinne besser zu nutzen«. Ihr Schicksal sieht sie als Lebensaufgabe, »meine Gehörlosigkeit wurde zweimal bestätigt, das ist zu offensichtlich für mich, um damit zu hadern.« Bei ihrer Geburt blieb die junge Frau im Geburtskanal stecken und erlitt einen Sauerstoffmangel, der zur Gehörlosigkeit führte, doch diese wurde erst später erkannt. »Wenn bis zum siebten Lebensmonat des Kindes festgestellt wird, dass es gehörlos ist, kann man durch die Reizung des Hörnervs noch viel tun«, erklärt Sarah Neef. Für sie war es zu spät. Doch das hält die musikbegeisterte junge Frau keineswegs davon ab, ihren liebsten Hobbys nachzugehen. »Wenn ich einen Raum betrete, in dem Musik läuft, spüre ich das mit jeder Faser meines Körpers«, beschreibt sie das kaum zu Glaubende. »Mit Rockmusik kann ich nicht viel anfangen, ich mag eher das Klassische, vor allem, wenn es wehmütig und melancholisch ist« sagt sie, »so wie Chopin, Debussy oder Tosca von Puccini«. Am liebsten setzt sie sich auf den Boden um die Schwingungen noch besser zu spüren. Sarah Neef spielt auch sehr gut Klavier und fühlt sich auf der Bühne, beim Theater oder Ballett in ihrem Element. »Wenn ich eine Ballettaufführung hatte, habe ich mir die Musik vorher immer wieder angehört und sie in meinem Kopf abgespeichert. Wenn ich dann auf der Bühne stand, habe ich sie einfach abgespielt«, sagt sie. Sarah Neef hat schon viele Menschen überrascht. »Ich bin mit Vorurteilen aufgewachsen«, bemerkt sie, »ich gehe keine eingefahrenen Wege, sondern sehe es als meine Aufgabe an, dagegen anzukämpfen«. Sie ist froh, dass ihre Eltern ihr Sprechen beigebracht und ein normales Leben ermöglicht haben. Die 28-Jährige hat viel erlebt und ist daran gereift. »Ich stelle mich gerne neuen Herausforderungen, aber es gibt schon ab und zu Punkte, an denen ich verzweifle«, gibt sie zu. Einer dieser Punkte ist das Telefonieren. »Ich habe über 200 Bewerbungen verschickt und bin zu vielen Gesprächen eingeladen worden. Und jedes Mal war es die erste Frage: Sie können doch telefonieren?« Das ärgert sie. »Heutzutage kann man sich doch auch per E-Mail prima verständigen«, findet sie. Immer dieses Kategorien-Denken. »Aber«, sie zuckt die Schultern, »damit muss ich mich abfinden«. Vielleicht hilft es in solchen Momenten, an die vielen positiven Rückmeldungen zu denken. Wer nicht weiß, dass die Psychologin gehörlos ist, würde es nicht bemerken. »Es gibt so viele Möglichkeiten, ein R auszusprechen, das habe ich lange geübt«, gesteht sie, »und das stimmlose CH zu verstehen, war auch nicht leicht«. Sie macht es gut. Eines Tages hat Sarah Neef einen Entschluss gefasst: »Jetzt schreibe ich mal, was Sache ist!« Mit ihrem Buch will die junge Frau nicht nur ihre außergewöhnliche Geschichte erzählen, sondern auch aufklären und Mut machen. »Behinderte Menschen sollten viel mehr im Alltag integriert sein«, betont sie. »Dann würde es ihnen auch besser gelingen, ihre Defizite auszugleichen! Viele Hörgeschädigte haben viel Potenzial und werden immer nur in eine Richtung geschoben!« Das ärgert sie. »Wir sind ganz normale Menschen«, stellt sie klar, »lasst uns also einfach tun und lassen, was wir richtig finden!« Denn eines, das weiß sie genau: »Der Weg des geringsten Widerstandes ist nur am Anfang asphaltiert!« Zurück |