Zeitschrift Frau im Spiegel 01. Juli 2009 Zurück DIE SCHÖNE TAUBE TÄNZERIN Interview: Patricia Leßnerkraus. Die 27jährige SARAH NEEF ist seit ihrer Geburt gehörlos. Trotzdem hat sie Karriere gemacht und beeindruckt durch die Kraft, mit der sie ihr Schicksal meistert. Etwa 80000 Menschen in Deutschland können kein Vogelzwitschern hören, kein Kinderlachen, keinen Straßenlärm. Gehörlose Menschen sind entweder völlig taub oder haben eine schwere Hörschädigung. Sie alle leben mit einer Behinderung, die nicht sichtbar ist, die ihnen aber unendlich erschwert, was Menschen miteinander verbindet: Kommunikation. Die meisten Gehörlose erlernen die Gebärdensprache. Die meisten Gehörlosen lernen die Gebärdensprache. Diese visuell wahrnehmbare Sprache, die sich aus einer Verbindung von Gesten, Mimik, Mundbild und Körperhaltung zusammensetzt, beherrscht aber kaum ein Hörender. Nur wenige Gehörlose gehen den weitaus schwierigeren Weg und erlernen mühevoll die Lautsprache der Hörenden. Die 27jährige Sarah Neef aus Sindelfingen in Baden-Württemberg gehört zu diesen Ausnahmen. "Durch einen kurzen Sauerstoffmangel während der Geburt verlor ich meinen Hörsinn. Bis zum fünften Lebensmonat jedoch hätte man durch die Reizung der Hörnerven den Hörsinn noch aktivieren können, erläutert Sarah ihr Schicksal. Doch die Ärzte erkannten zu spät, dass das kleine Mädchen taub war. Statt mit dem Schicksal zu hadern, entschieden die Eltern von Sarah, ihre Tochter durch Liebe zu stärken, sie frühzeitig zu fördern und sie die Lautsprache erlernen zu lassen. Sie wollten ihr eigenständiges und selbstbestimmtes Leben ermöglichen. So fuhren Mutter und Tochter mehrmals pro Jahr zu einer renommierten Audiopädagogin in die Schweiz. Diese führte Sarah liebevoll an die Sprache heran und stattete die Mutter mit Übungen für daheim aus. Der Lohn: Sarah besuchte die Waldorfschule und bestand ihr Abitur mit 1,9. Sie lernte Latein und spricht fließend Englisch, Französisch und Russisch. Sarah spielt auch Klavier und sie war bis zu ihrem Psychologiestudium in Stuttgart eine gefragte Tänzerin mit internationaler Erfahrung. Sie schloss das Studium mit der Note 1,6 ab und erhielt ein Stipendium der Friedrich-Naumann-Stiftung für ihre Dissertation. Nebenher schrieb sie ihr erstes, eben veröffentlichtes Buch: Im Rhythmus der Stille Wie ich mir die Welt der Hörenden eroberte (Campus Verlag, € 19,90). FRAU IM SPIEGEL besuchte Sarah Neef in ihrer Wohnung und lernte eine attraktive und selbstbewusste Frau kennen. Sie sagt: Ich traue mir im Leben alles zu. Sie haben studiert, fahren Auto, wohnen allein. Gibt es Einschränkungen für Sie? "Ja, und die wirken sich auch teilweise negativ auf meine Jobsuche aus. Ich kann nicht telefonieren, sondern bin auf SMS und Email angewiesen. Wenn ich fernsehe, geht das nur mit Untertiteln. Viele politische Diskussionen kann ich somit leider nicht verfolgen." Sie kommunizieren aber perfekt mit Ihren Mitmenschen. Eigentlich müssten Sie doch gar nicht auf Ihre Taubheit hinweisen "Doch schon, denn an einer Unterhaltung in größerer Runde, in der alle durcheinander reden, kann ich mich sonst nicht beteiligen, da ich von den Lippen ablesen muss. Das geht nur, wenn der Sprecher mir sein Gesicht zuwendet. Auch an der Uni war das ein Problem. Drehte sich der Professor zur Tafel oder wollte ich selbst etwas aufschreiben, riss der Blickkontakt zu seinen Lippen und ich verlor meist den Faden. Das Ablesen von den Lippen ist Schwerstarbeit und erfordert höchste Konzentration." Warum ist das so schwer? "Nur rund 30 Prozent des Gesprochenen kann man wirklich ablesen, der Rest ist Kombination und Interpretation." Woran liegt das? "Es gibt sehr viele Laute, die man gar nicht sehen kann. Nehmen Sie nur mal das CH, H, J, G oder K. Das sind auch die Laute, die für uns Gehörlose beim Erlernen des Sprechens sehr schwer fallen. Wir erlernen Sie sie durch Erfühlen und unendlich viele Sprachübungen tagein, tagaus. So habe ich mir alle meine Sprachen angeeignet mit großem Zeitaufwand, viel Disziplin, Fleiß, Hartnäckigkeit." Sie lesen von den Lippen ab, tragen aber zwei Hörgeräte. Warum? "Die benötige ich dringend für meinen Gleichgewichtssinn im Innenohr. So kann ich ganz laute Geräusche ab 120 Dezibel zur besseren Orientierung wahrnehmen. Zum Vergleich: Das Geräusch eines Presslufthammers liegt bei 95 Dezibel." Wie reagieren fremde Menschen auf Ihre Taubheit? "Sehr unterschiedlich. Es ist schon vorgekommen, dass ich mit einer fremden Person eine ganze Zeitlang eine muntere Unterhaltung geführt habe, bevor ich auf meine Taubheit hinwies. Danach sprach derjenige nur noch im Telegrammstil mit mir. Ich sage mir inzwischen: Wenn jemand mit meiner Taubheit nicht umgehen kann, dann ist das nicht mein Problem." Worauf muss Ihr Gegenüber während der Unterhaltung mit Ihnen achten? "Es ist wichtig, dass man ungekünstelt mit mir redet. Übertriebene Mundbilder, Murmeln, Nuscheln, all das erschwert mir das Lippenlesen. Stottern, Lispeln und Dialekte bereiten mir dagegen weniger Schwierigkeiten. Frauen verstehe ich besser, weil sie expressiver sind." Sie haben mit elf Ihren ersten Pas de Deux getanzt, waren mit der Tanzcompagnie auf Amerikatournee und hatten ein gefeiertes Soloprogramm - obwohl Sie die Musik gar nicht hören "Wenn ich tanze, vergesse ich die Welt. Ich nehme die Musik über meinen Körper auf, empfange die Vibrationen und Schwingungen der Klänge über die feinen Härchen auf der Haut. Hohe Töne höre ich im Nacken und Gesicht, die tiefen im Bauch und den Beinen." Und wie setzen Sie das um? "Vor einem neuen Tanz studiere ich genau die Noten, spiele sie immer wieder auf dem Klavier. Danach setze ich mich ganz dicht vor die Lautsprecher meiner Anlage, spiele die Musik auf CD ab und erfühle sie so lange, bis sie in mir abgespeichert ist. Auf der Bühne brauche ich sie einfach nur noch in Kopf und Körper abspielen zu lassen, dann setzen die Bewegungen ganz automatisch ein." Das ist kaum vorstellbar... "Wer die Musik über das Gefühl wahrnimmt, möchte sie wohl auch über das Gefühl wieder rausbringen." Sie haben Psychologie studiert - mit welchem Ziel? "Ich würde sehr gerne Coaching-Seminare für Führungskräfte leiten. Mich reizt es sehr, mit Menschen zusammenzuarbeiten, deren latent vorhandene Eigenschaften und Fähigkeiten hervorzukitzeln. Ich kann mir auch eine eigene Praxis vorstellen, vor allem für Hörgeschädigte." Sie schreiben, dass Sie Ihre Taubheit heute nicht mehr missen möchten... "Ja, dank meiner Taubheit habe ich gelernt, einen unerschütterlichen Glauben an das Machbare zu gewinnen. Das hat dazu geführt, dass ich zuversichtlicher, mutiger und vielleicht offensiver geworden bin. Ohne Taubheit wäre ich nicht so diszipliniert, hätte wahrscheinlich weniger Energie und Kampfgeist und wüsste das Leben nicht so zu schätzen." Haben Sie deshalb so jung Ihre Biografie geschrieben? "Mein Buch hat verschiedene Botschaften. Ich will Gehörlosen Mut machen, ihren Weg zu gehen, will ihnen zeigen, was alles machbar ist, wenn man bereit ist, Hindernisse zu überwinden. Den Hörenden schenke ich einen Blick in die Welt der Nichthörenden. Ich will Vorurteile abbauen und um Verständnis für diese Behinderung werben." Hat Ihnen das Schreiben Spaß gemacht? "Ja. Ich sitze schon am nächsten Buch. Weil ich nicht hören kann, sind meine anderen Sinne besonders ausgeprägt. Mir fallen Sachen auf, die manch anderem verborgen bleiben. Das halte ich jetzt alles fest in einer Fabel über zwischenmenschliche Beziehungen." Welche Rolle spielt die Liebe in Ihrem Leben? "Seit gut einem Jahr habe ich einen Freund, einen hörenden. Er ist Dozent an der Uni Hohenheim, war während des Studiums mein Statistik-Nachhilfelehrer." Welche Wünsche haben Sie? "Ich würde gerne wieder zurück zum Tanz, vielleicht als Choreografin. Irgendwann später hätte ich gern eine eigene Familie, auch wenn tief in mir drin der Gedanke ist, es könnte bei der Geburt etwas schief gehen. Eine absolute Sicherheit gibt es halt nie im Leben." Zurück |