Zeitschrift „Frau und Mutter“
Juli / August 2009

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Mit der Seele hören

Die Psychologin und Tänzerin Sarah Neef ist von Geburt an taub – und liebt Musik

Von Patricia Leßnerkraus.


Völlig in sich versunken sitzt die junge Frau auf dem Boden ganz nah vor ihrer Stereoanlage und lauscht hingebungsvoll der Musik. Langsam wiegt sich ihr Körper im Rhythmus der sanften Töne von Die Liebe zum Mond. „Es ist die Musik zu einem Tanztheater bei dem ich mitgewirkt habe, mit Stücken von Mendelssohn sowie meinen Lieblingskomponisten Chopin und Debussy“, strahlt die attraktive 27jährige. Aber Sarah Neef hört die Musik nicht etwa mit den Ohren. Sie nimmt sie wahr über ihren ganzen Körper, über die feinen Härchen auf der Haut, die die Schwingungen und Vibrationen der Klänge bis in ihr Herz transportieren. Hohe Töne hört sie sie im Gesicht, im Nacken, die tiefen im Bauch und in den Beinen. Mit den Ohren hört sie nicht, denn Sarah Neef ist taub. Taub durch einen kurzen Sauerstoffmangel, als sie als Baby im Geburtskanal fest steckte und nicht mehr vorwärts kam.

Dass Sarah Neef bislang dennoch einen außergewöhnlichen Weg ging, hat sie ihrer Familie sowie dem eigenen Ehrgeiz, eiserner Disziplin und ihrem wachen Geist zu verdanken. Gegen alle Widerstände und Ratschläge setzten ihre Eltern durch, dass die gehörlose Tochter sprechen lernte. Die Gebärdensprache lehnten sie für Sarah ab, schließlich sollte ihr Kind Regelkindergarten und –schule besuchen. Das nahezu Unmögliche wurde möglich. Sarah spricht nicht nur Deutsch, sondern auch Latein, Englisch, Französisch und Russisch. Dazu spielt sie sehr gut Klavier und ist eine begabte Tänzerin mit internationaler Erfahrung. Ihr Abitur bestand sie mit der Note 1,9, sie wurde mit dem Scheffelpreis in Deutsch und dem Humanismuspreis in Latein ausgezeichnet. Das schwierige Psychologiestudium absolvierte sie mit der Endnote 1,6. Von der Friedrich-Naumann-Stiftung erhielt sie gerade ein Stipendium für ihre Dissertation. Ihr begehrtes Berufsziel: Coaching-Seminare für Führungskräfte zu leiten oder aber eine eigene Praxis als Psychologin mit dem Schwerpunkt für Hörgeschädigte.

Eine selbstbewusste Frau.„Eigentlich lebe ich ein ganz normales Leben. Ich habe die gleichen Bedürfnisse und Träume wie meine Mitmenschen, nur dass meine Ohren halt nicht funktionieren. Aber ich will und werde immer Wege finden, dieses Defizit auszugleichen“, erläutert Sarah, die im Haus ihrer Eltern in der eigenen Drei-Zimmer-Wohnung lebt und auch selbst Auto fährt.

Ihr Weg vom gehörlosen Baby zu erfolgreichen Uni-Absolventin war hart und steinig. Alles, was für Hörende nahezu selbstverständlich ist, musste sich Sarah mühsam erarbeiten, manchmal auch erkämpfen. Doch Resignation hat sie nie zugelassen. Stück für Stück lernte sie ihre Behinderung zu akzeptieren. „Ich war ungefähr drei Jahre alt, als ich das erste Mal richtig realisierte, dass ich anders bin“, erinnert sich die junge Frau. „Ich habe nie verstanden, warum ich immer Sprachübungen machen musste und die anderen, die hörenden Kinder nicht. Und mir war aufgefallen, dass die Erwachsenen mit mir langsamer und betonter sprachen als mit meinen Freunden. Oder auch, dass die anderen Kinder sich kreuz und quer etwas zurufen konnten, während ich immer dem Sprechenden auf die Lippen schauen musste.“

So musste Sarah beispielsweise schon sehr früh den verantwortungsvollen Umgang mit Hörgeräten lernen, was mit Verzicht verbunden war. „Während meine Spielkameraden jauchzend in den Regen rannten und in Pfützen herum sprangen, musste ich im Trockenen warten, weil die Hörgeräte nicht nass werden durften“, seufzt sie schulterzuckend. Noch heute trägt Sarah hinter jedem Ohr ein solches Gerät.

Die Familie setzte alles daran, dass Sarah sprechen lernte. Täglich konzentriertes Üben und Erspüren der Laute, viele Reisen zu einer renommierten Schweizer Audiopädagogin und das frühe Heranführen an Bücher halfen Sarah Neef auf ihrem Weg in die Welt der Hörenden. Wer sich heute mit ihr unterhält, staunt über das hohe Sprachniveau, den flüssigen Sprechrhythmus und ihr zügiges Sprachtempo. „Manchmal ergibt sich Fremden gegenüber erst nach einer Weile die Gelegenheit auf meine Taubheit hinzuweisen. Plötzlich legt mein Gegenüber dann den Schalter um und spricht nur noch im Telegrammstil mit mir, obwohl wir uns wenige Minuten zuvor noch angeregt ausgetauscht haben“, bedauert Sarah. Sie erlebt dieses Phänomen häufiger und kennt die Unsicherheiten von Hörenden gegenüber Nichthörenden nur zu gut.

Aus diesem Grund hat sie jetzt ihre Biografie geschrieben: „Im Rhythmus der Stille – Wie ich mir die Welt der Hörenden eroberte“ (Campus Verlag).Mit ihrem Buch möchte sie anderen Menschen mit Behinderung Mut machen und mögliche Vorurteile von Nichtbehinderten abbauen.

Sarah Neef geht offen mit ihrer Behinderung um, denn sie will nicht ausgegrenzt sein. Für sie ist es wichtig, dass die anderen Bescheid wissen. Wer sich mit ihr unterhalten will, muss ihr das Gesicht zuwenden, denn nur so kann Sarah von den Lippen ablesen und sich am Gespräch beteiligen. Eine Aufgabe, die ihr schon wegen der vielen unterschiedlichen Mundbilder und Sprachfehler alle Konzentration abfordert. „Nur rund 30 Prozent der Worte kann ich von den Lippen ablesen, denn es gibt viele Laute, die man gar nicht sieht, wie das ch oder k. Der Rest ist Kombination und Interpretation, also reine Kopfarbeit“, erklärt sie ihre Form der Kommunikation. „Man muss sich sehr in das Gegenüber hineinversetzen, um zu erahnen was die Person sagen möchte.“

Sarah ist darauf angewiesen, dass ihr Gesprächspartner ungekünstelt spricht, keine übertriebenen Mundbewegungen macht und auch nicht murmelt oder nuschelt, sonst versteht sie nichts. Frauen versteht sie besser, weil Frauen expressiver sind und eine andere Sprache haben als Männer. Im Studium war sie stets auf einen Platz in der ersten Reihe angewiesen, damit sie die Lippen lesen konnte. Wenn sie mitschrieb oder der Dozent ihr den Rücken zukehrte, dann verlor sie schnell den Faden. „Viele Dinge sind ein wenig schwerer für mich“, bekennt sie offen, „aber deswegen kapituliere ich nicht schon von vornherein“.

Natürlich gibt es auch Situationen im täglichen Leben, in denen sich Sarah kampflos in ihr Schicksal fügen muss. „Ich kann nicht telefonieren. Dieses Handicap wird mir vor allem jedes Mal bei den Absagen für einen Job bewusst. Dabei kann man doch auch mailen oder schnell man von einem Büro zum anderen laufen“, versucht Sarah immer wieder ihren Mitmenschen klar zu machen. Sie selbst hat auch ein Handy und schreibt damit fleißig SMS. „Leider kann ich auch im Fernsehen nicht alles anschauen. Viele politische Diskussionen, die mich sehr interessieren würden, kann ich nicht verfolgen. Ich bin auf Untertitel angewiesen.“

Dafür geht sie gerne ins Theater. am liebsten geht in Klassiker wie Brecht, Shakespeare, Schiller oder Goethe. „Da kann ich im Vorfeld im kleinen Reclam-Heft das Stück durchlesen und weiß ungefähr, welche Dialoge gesprochen werden“, verrät Neef ihren Trick. Schon als kleines Kind in ihrer Heimatstadt Sindelfingen waren Theater und Bühne ihr Leben, auch wenn sich so mancher an Sarahs Sprache störte. „Es ist peinlich für uns alle, wenn Du auf der Bühne stehst und sprichst“, versuchten einst die Klassenkameraden der Waldorfschule, Sarah bei den Theateraufführungen auszugrenzen. Sarah schluckte diese bittere Pille - und fand einen mehr als adäquaten Ersatz: Statt auf der Waldorf-Bühne zu stehen, spielte sie erfolgreich bei Stuttgarter Jugendtheater mit. Und sie lernte Ballett, bis heute ihre ganz große Leidenschaft. Sarah war gerade erst elf Jahre alt, als sie ihren ersten öffentlichen Pas de Deux mit dem umschwärmtesten Tänzer des Stuttgarter Ensembles tanzte. Einige Jahre später ging sie sogar mit einer Tanzcompanie auf Amerikatournee. Sie war eine gefragte Tänzerin, gab selber Workshops und wagte sogar gemeinsam mit einem Pianisten und einem Cellisten ein gefeiertes Soloprogramm.

In der Musik und im Tanz blüht sie auf, kann abschalten und so manchen Tiefschlag im Alltag vergessen. Wer die hübsche Frau auf der Bühne sieht würde niemals glauben, dass sie die Musik gar nicht hören kann. So perfekt und leicht sieht ihre Darstellung aus. „Oft habe ich mir vor neuen Tänzen die Noten gekauft, sie genau studiert und auch auf dem Klavier gespielt, um eine Ahnung von der Technik zu bekommen. Dann habe ich mir die Musik auf CD mehrmals angehört. Ich saß so lange vor dem Lautsprecher und habe sie gefühlt, bis sie in mir gespeichert war. Und auf der Bühne habe ich sie dann einfach nur noch in meinem Kopf und Körper abspielen lassen. Die Bewegungen dazu setzen ganz automatisch ein. Vielleicht ist es so, dass wenn man die Musik über das Gefühl in sich aufnimmt, man sie auch über das Gefühl wieder rausbringen möchte.“

Sarah Neef hat im Laufe ihres Lebens feine Antennen ausgebildet. Sie hört mit den Augen und horcht mit der Seele. Sie ist eine starke junge Frau. Ihre Kraft zieht sie aus ihrem Glauben an Gott. Gehadert hat sie mit ihm trotz ihres Schicksals nie. „Mir wurde zwei Mal die Chance genommen zu hören – bei der Geburt und in den ersten Lebensmonaten, als es noch die Möglichkeit gegeben hätte, die Hörnerven entsprechend zu reizen. Deshalb habe ich mein Schicksal sehr früh als Lebensaufgabe angenommen und auch so verstanden.“ Inzwischen möchte sie ihre Taubheit nicht mehr missen. „Hätte ich diese Hörschädigung nicht, wäre aus mir nie der Mensch geworden, der ich jetzt bin“, bilanziert Sarah Neef und fügt leise hinzu, „auch wenn ich wohl mein ganzes Leben lang werde kämpfen müssen.“

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